Die Norfer Sappeure
Beiträge zur Geschichte des Sommerbrauchtums
im Kreis Neuss

Georg Kandler  *)

Die Militärmusik


 


Als Militärmusik bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch die im militärischen Bereich entwickelte Blasmusik aller Besetzungen mit dem Marsch als Kern. Sie umfasst die Spielleute, d. h. Trommler und Pfeifer, Hornisten-, Fanfarenkorps; sodann die reine Blechmusik (engl. brass band, frz. fanfare, ital. fanfara, span. charanga) der Signalhorn-, Kavallerie-, Jäger-, auch Panzermusik; und als höchstentwickelte und reichstbesetzte Gattung die Harmoniemusik (engl. military band, frz. barmonie, ital. banda armonia, span. banda militar) der Infanterie- (früher "türkische" oder Janitscharenmusik) und Luftwaffenmusik. Unter Militärmusik im weiteren Sinne versteht man die gesamte Betätigung von Musikkorps und Spielleuten einschließlich der sogen. "Streichmusik" innerhalb und außerhalb des militärischen Dienstes; in Anlehnung an Wortbildungen wie "Militärorchester" (analog zu "Beamten-", "Ärzteorchester" u. a.) zur Erfassung des weitverzweigten Komplexes die Gesamtheit militärischer Musikbetätigung überhaupt (einschließlich wehrbetreuerischer Spielgruppen, Soldatengesangsgruppen, halbprivater Kammer-Musik, kirchlichen Choralgesangsgruppen. u. ä.); und schließlich in mehr literarischem Sinne Musik "militärischen" Charakters (Battaglien, Haydns Militär-Symphonie, L. Mozarts Divertimento militare, Händels Feuerwerksmusik, Violin-Konzerte von Viotti, Operneffekte bei Spontini u. a., zahlreiche Bühnenmusiken u. ä.); letzte Bedeutungen bleiben hier unberücksichtigt. Der Terminus Militärmusik (früher Feldmusik) ist vermutlich eine Lehnübersetzung aus dem Französischen.
Die Geschichte der Militärmusik beginnt, streng genommen, erst mit der Überschattung der Signalmusik durch die Vorherrschaft der Marschmusik mit eigener Kompositions-Form. In diesem Sinne ist die Militärmusik heute rund 300 Jahre (17. Jh.: Aufstellung von Militärkapellen zusätzlich zu den Spielleuten) bzw. 400 Jahre alt (16. Jh.: von Spielleuten vorbereitete Herausbildung des "Marsches"). Ihre Vorstufe im Sinne der gegebenen Definition ist die "Signalmusik" als ältere Kriegsmusik, wie sie (ohne abendländischen. Einfluss) noch heute bei exotischen Völkern bekannt ist.

Innerhalb der Militärmusik als neuerer Kriegsmusik trat, im Laufe der Entwicklung, zur "Marschmusik" (um 1650 - 1820) die "Konzertblasmusik" (ab 1820); die jeweils überholten Hauptfunktionen starben jedoch nicht ab, sondern der Änderung der Kriegstechnik entsprechend verschob sich lediglich der Schwerpunkt. Innerhalb ihrer Vorgeschichte (Signalmusik) und ersten Entwicklungsstufe (Marschmusik) diente die Militärmusik überwiegend praktischen Zwecken und war Gebrauchsmusik. In der zweiten Entwicklungsstufe (Konzertblasmusik) gewannen allgemein-künstlerische Gesichtspunkte zunehmend an Bedeutung. Solange eine militärische Verwendung der Militärmusik unumgänglich war, wurde ihr Wert nicht angezweifelt. Ihre Lebensberechtigung stand erst dann in Frage, als sich rein künstlerische Leistungen bemerkbar machten: 1802 wurden (zeitweilig) die französischen Kavalleriekapellen und 1868 die österreichischen. Kavallerie- und Artilleriekapellen aufgelöst, 1932 die dänischen Militärkapellen abgeschafft. Aus der Sphäre "handfester" Dienstpraxis in die Höhenlage leicht verkannter Imponderabilien emporgestiegen, sah sich die Militärmusik gelegentlich als Einrichtung wie auch als musikalische Gattung in ihrer Existenz bedroht, konnte jedoch ihre Weiterentwicklung immer wieder durchsetzen.

1941 wurde Militärmusik auch wissenschaftliches Lehrfach für Militärkapellmeister -Anwärter am Konservatorium Berlin ("Hist. und syst. Militärmusik-Wissenschaft "). - Zu jeder Zeit hatte die Militärmusik nicht nur einen praktischen Zweck, sondern auch die Aufgabe, die Stimmung der Truppe zu beeinflussen und psychische Wirkungen auszuüben. Auch in früherer Zeit bedeuteten Signale nicht nur bloße Befehlsübermittlung; ein fortgesetztes Signal "Marsch!" sollte (und konnte) die Truppe beflügeln, ein andauerndes Angriffssignal steigerte ihren Mut und verwirrte den Feind:

"Mit der Heertrummel das hertz ich weck

der vnsern vnd die feind erschreck"

(Hans Sachs).

Marschmusik sicherte nicht nur den Gleichschritt der Formation, sondern stärkte die Marschierenden, und das Spielen des Avanciermarsches in der Schlacht flößte den Kämpfenden Disziplin, Kraft, Mut und Kampfgeist ein. Ähnlich verhalten sich Aufgabe und Wirkung der späteren Konzertblasmusik bei der Truppe wie bei der Bevölkerung einer Garnisonstadt. - Das Instrumentarium der Militärmusik hat sich aus einem geringen Bestand an primitiven Klangwerkzeugen mit nur einzelnen Naturtönen über zahlreiche Zwischenstufen zum ansehnlichen Klangkörper des Blasorchester entwickelt, dem höchste Kompositions-Formen wie Ouvertüre (Mendelssohn, Ouvertüre für Harmoniemusik), Symphonie (Hindemith, Symphonie B für Blasorchester) und Concerto (Grabner, Concerto grosso für Blasorchester u. a.) nicht verschlossen sind.

Bis heute fehlt dem Blasorchester, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, ein umfassendes Repertoire an Original-Kompositionen. Lange Zeit hindurch diente ihm das große Orchester mit seiner Vielfalt von Instrumenten bei z. T. gleicher, z. T. verschiedener Besetzung (großes Orchester: zusätzliche Streicher; Blasorchester: "weiches" Blech) als Vorbild. Mit dem Chor verbindet das Blasorchester die Tonerzeugung durch den Atem der Ausführenden, die Blechmusik gleichzeitig der homogene Klangcharakter; mit der Orgel die Tonerzeugung durch schwingende Luftsäulen und Vielfalt der Register, mit dem großen Orchester die Großzahl der Instrumente unter Leitung eines Dirigenten. Heute orientiert man sich teilweise an der Orgel, wodurch besonders bei polyphoner Setzweise ein durchsichtiges Klangbild des Blasorchesters gewährleistet wird.

Aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 9. Bärenreiter u.a. 1961. Sp. 305 - 335.

 

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