Die Norfer Sappeure
Beiträge zur Geschichte des Sommerbrauchtums
im Kreis Neuss

Jürgen Kuhfuß
Eindrücke eines Ahnungslosen

Ein Sonntag im September


 

Ich bin verführt worden. Eigentlich wollte ich nie aktiv an einem Schützenfest teilnehmen. Zahlreiche Biere und noch zahlreichere Wörter, eine Portion Neugier und eine größere Portion Sympathie aber haben erreicht, daß ich nun hier stehe, an einem Sonntagmorgen im September, um 6.45 Uhr, an einem Brunnen in Norf und in der Uniform der Norfer Sappeure.

Wahrscheinlich sehe ich im Gesicht ebenso grau aus wie die blau-weiß gewandeten Männer, die hier bereits warten. Sie sehen mich stumm aus schmalen Augen an. Sie scheinen sich zu erinnern. Die Engländer, fällt mir ein, haben ein wunderbares Wort für den Kater: the-moming-after the-night-before. Die Nacht vorher war in diesem Fall nicht irgendein Samstagabend, sondern der Abend des Norfer Fackelzuges. Und der wird traditionsgemäß im Schützenzelt beendet. Wir warten auf weitere Sappeure.

Inzwischen treffen auch einige dunkel uniformierte Männer ein. Diese wiederum entlocken auf ein Zeichen eines einzelnen Herrn den mitgebrachten Geräten - Trompeten, Tuben, Posaunen und Ähnlichem schmetternde Geräusche. Das hilft ein wenig. Später erklärt man mir, dies sei Marschmusik. Woher auch das Wort marschieren rühre. Marschieren ist eine nützliche Fortbewegungsart. Nützlich, weil sie verhindert, daß die Blau-Weißen das Schützenzelt verfehlen. Das synchrone Verschieben von Beinen & Füßen erzeugt den Rhythmus, bei dem jeder - auch der Bezechteste! mit muss.

Nach einer Weile verlassen die Sappeure den Treffpunkt mit reichlich Märschen. Nun zeigt sich die Qualität dieser Musikform zum ersten Mal ganz deutlich: hätte man die Männer an diesem Morgen einzeln losgeschickt, wären sie niemals am Ziel angekommen: einem nahegelegenen Garten. Brötchen, Kaffee und Hühnersuppe sind die Belohnung für diese erste Anstrengung. Die Augen der Männer erreichen allmählich wieder Normalform und sie beginnen sogar zu sprechen. Sie sprechen von vergangenen Tagen und bevorstehenden Taten.

Aber so weit sind wir noch nicht. Denn bevor wir das Zelt betreten, müssen einige ernste Formalitäten abgewickelt werden. Der Sonntagmorgen ist ja der Teil des Schützenfestes, zu dem das Korps zum ersten Mal in Uniform erscheint: eine gute Gelegenheit für Ehrungen. Denn die Orden und Dienstgrade, die jetzt vom Major im eben erwähnten Garten verliehen werden, können während des restlichen Schützenfestes stolz herumgezeigt werden. Ausgezeichnet werden Schützen, die sich um das blau-weiße Korps verdient gemacht haben. Man sagt übrigens tatsächlich, die Orden werden "verliehen". Obgleich sie in den Besitz des Geehrten übergehen. (Ich jedenfalls werde keines meiner Ehrenabzeichen freiwillig zurückgeben.)

Folgt der Kirchgang. Die Kirche ist zu klein, um alle Schützen und die interessierte Bevölkerung aufzunehmen.
Deshalb bleiben einige Schützen freiwillig im Garten zurück und treten erst zum anschließenden Umzug an, der an das Ehrenmal vor dem ehemaligen Norfer Rathaus führt. Hier wird der Toten aus den Weltkriegen, aus den Lagern, des Holocausts gedacht. Das Gedenken schließt mit dem Großen Zapfenstreich.

Jetzt geht es endlich zum Schützenzelt. Dieser - in Norf recht kurze - Zug wird sich mir ins Gedächtnis einprägen als einer der schönsten. Die Luft ist erfüllt von Vorfreude. Das Schützenfest hat erst jetzt richtig begonnen. Wenn dazu die Norfer Sonne scheint, ist das Glück fast vollkommen.

Wer nie an einem Sonntagmorgen, so fand ich heraus -, mit frischgebügelter weißer Hose und gut rasiert ein leeres Bierzelt betrat und das Luftgemisch aus abgestandenem Bier und kaltem Rauch tief in seine Lungen sog, weiß nicht, was Schützenfest bedeutet. Diese Luft ist wie ein Konzentrat des Aufregenden und Schönen, das sich noch gestern hier zutrug und ein Versprechen, dass sich in naher Zukunft wieder Ähnliches hier abspielen wird.

Im Zelt werden, unterbrochen durch Blasmusik, wieder Orden und Ehrenzeichen verliehen. Auf der Bühne stehen Schützen, deren Leistungen für die ganze Bruderschaft von Bedeutung zu sein scheinen. Für die Sappeure gibt es Brötchen zum Bier.

Den Höhepunkt des Sonntags aber bildet zweifellos der große Umzug mit der anschließenden Parade. Der führt, wie der Fackelzug am Samstag, durch Derikum, den Ortsteil Norfs, der durch eine Bahnlinie abgetrennt wird.

Fortschritt ist eine Frage des Standpunktes: es kommt auf die Richtung an, aus der man den Fortschritt betrachtet. Ein Beispiel: Die neue Unterführung an der Eisenbahnlinie ist für Geschäftsleute und Touristen sicher ein Gewinn. Für die Norfer Schützen ist er ein Verlust.
Das Warten vor der geschlossenen Bahnschranke war keine harte Prüfung. Im Gegenteil: Es war eine Erleichterung. Mit Wehmut denke ich an die herrlichen Augenblicke, da ich mit meinem Sappeurkameraden Richard das verwilderte Grundstück in der Nähe der Bahngeleise betrete. Wir schwanken beide leicht in der milden Septembersonne. Es ist das Frühstücksbier. Ich fixiere Sauerampfer und Brennnessel, knöpfe die Hose auf und murmele vor mich hin: "Ich mach Euch alle nieder! " Während Richard anschließend seufzt: "Och, deiht dat joht! " Das wird nun nie wieder so sein.

Es wird auch keine Gelegenheit mehr geben, die Wartepausen durch Verzehr alkoholhaltiger Getränke zu verkürzen. Selbst auf das Maulen über die Wartepausen (und den Verzehr alkoholhaltiger Getränke) werden wir in Zukunft verzichten müssen. Vielleicht stattet im Zeitalter der Computer und Handies ein geschäftstüchtiger Sponsor die Norfer Schützen eines Tages mit so windschnittigen Uniformen aus, daß sie den Zugweg in weniger als dreißig Minuten schaffen.

Der einzige Haltepunkt ist nun das Ufer der Norf. Während die Schützen auf den Beginn der Parade warten, erleichtern sie sich übrigens schon seit Jahrzehnten an der Hecke über der Norf. Womit bewiesen wäre, daß Harnstoff aus Alt und Pils der Pflanzen- und Tierwelt nicht schadet. Und die zufällig vorbeikommenden Passanten erfreuen sich stets an dem farbenfrohen Bild: eine bunte Reihe von Schützen aller Corps, deren untere Hälfte von einer grünen Hecke verborgen ist, winkt mit der anderen Hand herüber.

Die Parade ist für die Sappeure kein großes Problem: sie zeigen dem König im Vorbeigehen ihre Äxte. Der König nimmt die Äxte interessiert zur Kenntnis. Daraufhin eilen die Sappeure wieder ins Festzelt.

In diesen Bierzelten wird die Kunst des Trinkens gepflegt.
Kunst, sage ich, denn: dieses Zelt am Morgen zu betreten und tief in der Nacht aufrecht zu verlassen, ist eine Kunst.

Richtiges Trinken ist nicht einfach. Zur Kunst des Trinkens gehört einiges:

- Zum Ersten braucht es eine größere Anzahl Menschen: alleine trinken macht wenig Spaß. Zum Trinken gehören nämlich Erzählungen, - " Verzällches " die idealerweise im größeren Kreis zum Besten gegeben werden.

- Zweitens ist eine bestimmte Musik erforderlich, die eine freundliche Grundstimmung erzeugt. Am liebsten Blechmusik. Eine passende Wetterlage nicht zu warm, nicht zu kalt steigert die Trinkfreude ebenfalls.

- Drittens sollte sich eine Essgelegenheit in unmittelbarer Nähe der Trinker befinden. Viertens natürlich muss eine ausreichende Menge Bier bevorratet sein. Dies Alles bietet das Schützenfest in idealer Weise und schafft so das Klima für die Entstehung von Heldensagen und Legenden.

Es gibt Visionen, Erscheinungen und Ereignisse, die sich tief in das Bewusstsein der Blauweißen eingegraben haben und noch nach Jahren für Gesprächsstoff sorgen. Jahr für Jahr werden sie weitererzählt und erfahren dabei die Variationen und Veränderungen, die solche Ereignisse brauchen, um Legenden zu werden. Ein harmloses Verschlabbern von Bier beispielsweise kann im Lauf der Jahre zu einer Flutwelle anwachsen, die seinerzeit "beinahe das Zelt weggespült" habe. Diese Veränderungen sind außerdem erforderlich, weil die ständige Wiederholung der immer gleichen Geschichte - wie jeder weiß - zum Wahnsinn treiben kann.

Mit vielen solcher Geschichten und ebenso vielen Bieren endet dieser Sonntag im September. Am Montagmorgen werde ich, leicht angegraut, wieder irgendwo in Norf herumstehen und versuchen, andere Sappeure zu erkennen.


 

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